Die durch die Proteste meist ausländischer Jugendlicher weltberühmten Pariser Banlieues sind nicht die einzigen Massenwohnsiedlungen ihrer Art - Wohnsilos die heute anonym und abstoßend wirken sind in vielen europäischen Städten zu Krisenherden geworden. Die Wiege dieser Trabantenstädte - der "modernen europäischen Stadt" - steht in Afrika. In den fünfziger Jahren waren es junge Architekten, die beispielsweise in Casablanca anfingen solche Utopien aus Glas, Stahl und Beton in die Wüste zu bauen.
Der Grund war eine enorme Landflucht, die nach dem 2. Weltkrieg einsetzte und die einst weiße Kolonialstadt Casablanca von gerade einmal 25000 Einwohnern auf über eine halbe Million Menschen anschwellen ließ. Viele dieser Zuwanderer fanden keine bessere Bleibe als wilde Siedlungen, sogenannte Bidonvilles - 1952 lebten rund 100.000 Bewohner Casablancas in solchen Vierteln.
Die Protektoratsregierung beschloss, "der Pest der Barackensiedlungen" einen Masterplan entgegenzusetzen, einen Testfall der modernen Stadtplanung - der "Stadt von Morgen".
Die jungen europäischen Architekten, die für die Aufgabe gewonnen wurden waren beeinflusst von Le Corbusier und seiner Vorstellung einer funktionalen Ästhetik. Die Utopie, die in dieser Vollkommenheit noch nie hatte umgesetzt werden können, sah riesige "Wohnmaschinen" vor, möglichst vollständige Funktionstrennung, die autogerechte Stadt und ein Abschied von allen traditionellen Konventionen. Casablanca wurde zu einem riesigen Experimentierfeld. In der Stadt entstanden die erste Tiefgarage außerhalb Amerikas, das größte Schwimmbad der Welt und vor allem die ersten Massenwohnanlagen für 35.000 Menschen und mehr.
Die jungen idealistischen Architekten hatten wohl an der Seite von Ethnologen die traditionellen Siedlungsstrukturen der Marokkaner studiert und in ihre sonst streng geometrischen Entwürfe auch Elemente der lokalen Architektur aufgenommen - doch die aktuelle Lebensrealität des Landes unter Herrschaft eines Kolonialherren hatten sie vollkommen ausgeklammert.
Und so waren es genau diese neuen Viertel, die "Habitats Marocains", in denen sich schließlich der Widerstand gegen die Protektoratsregierung formierte. Die Massenwohnanlagen wurden nach Europa exportiert und dort teilweise von den gleichen Architekten wie in Casablanca errichtet und von den gleichen Menschen - afrikanischen Gastarbeitern und Migranten - bewohnt. Und es blieb bekanntlich nicht bei einem Einzelfall, dass ausgerechnet von diesen Vierteln, die auch hier zu einer besseren Kontrolle der Bevölkerung errichtet wurden, die Jugendrevolten ausgingen.
Quellen: Wolf Gaebe - Urbane Räume, Spiegel vom 30.8. 2008 ("Die Betonwüste lebt"), Fotos: eigene sowie Google-Earth.
Wie die Menschen in diese Trabantenstädten heute mit ihrer Lebensumwelt umgehen ist in dem Internetprojekt "This was Tomorrow" anzuschauen. Hier zeigen Bewohner private Videos von ihrem Leben. Wie diese hier: Zwei "Parcour"-Künstler führen durch Casablanca...
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