Teil 2: Die Theorie der fragmentierenden Entwicklung
Bis heute basiert das tragende Paradigma in der internationalen Entwicklungspolitik auf der Idee von nachholender Entwicklung – durch technische, finanzielle und personelle Unterstützung des Nordens könne der Rückstand der Länder des Südens aufgeholt werden. Doch die Erfahrung hat gezeigt, dass praktische Maßnahmen der Entwicklungspolitik (inspiriert sowohl durch Modernisierungstheorien, als auch Dependenztheorien) nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben.
Ausgelöst durch die Globalisierung, regen tiefgreifende strukturelle Veränderungen heute dazu an, die theoretischen Zusammenhänge von Neuem zu überdenken. Die Theorie der „fragmentierenden Entwicklung“ stellt einen Ansatz dar, der Entwicklung unabhängig von Nationalstaaten betrachtet und damit Klassifikationen wie die von UN und Weltbank verwendeten Skalen (Less-, Least Devoloped Countries, etc.) zumindest relativiert. Es ist die global operierende Wirtschaft, die dem entgrenzten Nationalstaat die Bedeutung entzieht.
Abb. 1: Das Modell globaler Fragmentierung (Quelle: Scholz 2002: 7).
Transnationale Unternehmen und Finanzinstitutionen haben ihre Kommandozentralen vorwiegend in den „globalen Orten“ des Nordens, wie New York, London oder Tokyo (vgl. Abb. 1). In hierarchischer Ordnung bestimmen sie über das Geschehen in den „globalisierten Orten“ zu denen die stetig wachsenden „Städtemonster“ Lateinamerikas, Afrikas, Süd- und Südostasiens gezählt werden können. Dort befinden sich Hightech-Dienstleistungen, Steuerparadiese und Auslagerungsindustrie (durch die Ablösung der fordistischen Massenproduktion im Norden); dort findet die Billiglohn- und Massenkonsumgüterproduktion, sowie die montane und agrarische Rohstoffextraktion statt.
Diese Orte des globalen Wettbewerbs, die in ständiger Konkurrenz zueinander und daher unter enormem Erfolgsdruck stehen, stellen jedoch nur bestimmte Orte bzw. Zonen und nur Teile der Bevölkerung dar. Sie leben in ständiger Angst vor dem Abstieg in die „Neue Peripherie“ – das, was übrig bleibt, wenn man von der Wirtschaft die globalen und die globalisierten Orte abzieht: Der „überflüssige“ Anteil der Weltbevölkerung wird als Arbeitskraft nicht benötigt, spielt als Konsument keine Rolle und seine Erzeugnisse werden nicht gebraucht (Scholz 2002: 8).
Abb. 2: oben, Bauprojekt "Crescent Bay" in Karachi, Pakistan; unten: Villen im "portugiesischen Stil" in Karachi und Islamabad (Quelle: Iman Investments).
Anstatt die Struktur von Armut und Reichtum im Rahmen von Nationalstaaten zu sehen, geht die Theorie der „fragmentierenden Entwicklung“ dazu über, bestimmte Orte oder Zonen als Fragmente von Armut („Ghettos, Höllen, No-Go-Areas“) und Reichtum („Zitadellen, Paradiese, No-Entrance-Areas“) zu identifizieren.
In der Tat mutet es seltsam an beispielsweise mit Pakistan von einem armen Land zu sprechen, wenn in Städten wie Karachi oder Lahore wahrhaftig paradiesische Villenviertel zu finden sind, die Lebensstandards bieten, von denen auch die Mehrzahl der Menschen des Nordens allenfalls zu träumen wagt (vgl. Abb. 2 ). Oftmals räumlich gar nicht allzu weit entfernt, doch von den „Paradiesen“ mittels festungsartigen Mauern und Wachpersonal abgetrennt, liegen die Slums der „Überflüssigen“. Sozial gesehen liegen dennoch Welten zwischen den verschiedenen Vierteln zum Beispiel Karachis (vgl. Abb. 3; vgl. auch Scholz 2006: 252).
Abb. 3: North Nazimabad, Karachi: Verdeutlicht wird die Separierung zwischen dem Slum zur linken Seite und dem besser gestellten Viertel zur rechten in diesem Fall durch einen Bergkamm (Quelle: Google Earth).
Teil 3: Folgerungen
Die gängigen klassifikatorischen Konzepte (Nord-Süd; Dritte Welt), die sich immer auf ganze Nationalstaaten oder Großregionen bezogen haben, werden durch die beschriebenen Prozesse langsam aber sicher hinfällig. Folgt man der Theorie der „fragmentierenden Entwicklung“ treten an ihre Stelle auf der einen Seite Fragmente der massen- und flächenhaften Armut und auf der anderen eng lokal begrenzte „Inseln des Reichtums“, die gleichzeitig und gleichenorts zu finden sind.
Ausdruck der Fragmentierung sind zum Beispiel Gated Communities, die als Phänomen der sozialen Abgrenzung unter anderem auch als Gegen-/Schutzreaktion auf die Massenmigration angesehen werden kann (vgl. die Beiträge im Blog mit Label „Gated Communities“). Auch Remittances – Rücküberweisungen von Migranten in den Süden, bzw. in die Neue Peripherie – sind in diesem Zusammenhang zu nennen (vgl. Beitrag im Blog: „Der reiche Norden“ – Remittances als Armutsbekämpfungsstrategie in der „Dritten Welt“).
Doch welche Rückschlüsse lassen sich aus dem Konzept einer fragmentierten Welt schließen? Macht die Entwicklungshilfe von Staat zu Staat keinen Sinn mehr? Der Chef des UNDP (United Nations Development Programme) forderte bereits, private Firmen in die Entwicklungsarbeit stärker einzubeziehen, so dass das „internationale System der Entwicklungshilfe nicht mehr das vorrangige Vehikel“ sei.
Für Scholz stellt diese Forderung jedoch eher eine Horror-Vision dar: Durch den exzessiven Wettbewerb, der mit den Unternehmen Einzug in die Entwicklungspolitik halten wird, werden „Armut, Ausgrenzung und Überflüssigsein […] dann als Ausdruck individuellen Versagens gelten, für das die Gesellschaft keine Verantwortung mehr übernehmen muss.“ (Scholz 2006: 259) Zur tatsächlichen Verbesserung der Entwicklungsrealität der ausgegrenzten Peripherie (um nun wirklich nicht mehr von ganzen Ländern zu sprechen), fehlt es dem Norden, bzw. den Globaliserungsfragmenten auf der Gewinnerseite, an einer prinzipiellen Einsicht: „Die Annahme ist irrig, dass Entwicklung ohne Werttransfer, ohne Verzicht auf Eigennutz, ohne Verminderung von Ungleichheit und ohne Solidarität möglich ist. Die Wirklichkeit von fünf Entwicklungsdekaden ist Beweis dafür!“ (Scholz 2006: 258).
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Zum Buch "Entwicklungsländer – Entwicklungspolitische Grundlagen und regionale Beispiele": Der vorliegende Artikel wird einer ausführlichen Zusammenfassung des Lehrbuches nicht gerecht, er soll somit auch keine Rezension darstellen und schon gar keinen Ersatz dafür, das Buch zu lesen. Aus dem schier unerschöpflichen Thema der Entwicklungspolitik zieht Scholz eine ebenso interessante, wie kurzweilige Mischung und schafft einen guten Überblick. Besonders gefallen hat mir sein nachvollziehbares und merklich von Herzen kommendes (ja, auch dafür muss Platz sein in der Wissenschaft!) Plädoyer für einen materiellen Verzicht des Nordens. Letztlich ist sein Fazit aber doch pessimistisch, da er keine Veränderung der realen Machtverhältnisse (profitierender Norden, profitierende Gruppen/Eliten des Südens) für möglich hält. Das Buch ist uneingeschränkt zu empfehlen!
Kategorie "nebenbei notiert": "Wie wär’s bei der Gelegenheit mit einem anderen Weltwirtschaftssystem? Heute im Super-Mega-Billig-Sonder-Angebot: Der Kommunismus! Ob ich mal schauen bei Wikipedia mag? Ich bin doch nicht blöd!"
4. Literaturangaben
SCHOLZ, FRED (2002): Die Theorie der "fragmentierenden Entwicklung". Geographische Rundschau 54 (2002) Heft 10, S. 6-11.
SCHOLZ, FRED (2006): Entwicklungsländer – Entwicklungspolitische Grundlagen und regionale Beispiele. Braunschweig.
SCHOLZ, FRED (2006): Entwicklungsländer – Entwicklungspolitische Grundlagen und regionale Beispiele. Braunschweig.
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