von Steffen Hirth
Lateinamerika, also alle Staaten Amerikas südlich der USA, ist zwar auf die Gesamtfläche gesehen kein dicht besiedeltes Gebiet. Es weist aber einen hohen Grad an Verstädterung auf; 1990 lag dieser bei 72% (Waldmann 2000: 24). Mexiko-Stadt, Sao Paulo und Buenos Aires gehörten im Jahr 2000 zu den zehn größten Städten der Erde (Heineberg 2003: 310). Was liegt angesichts dessen näher, als die lateinamerikanische Stadt einmal näher in Augenschein zu nehmen?
In der wissenschaftlichen Diskussion hat es schon viele Versuche gegeben, die lateinamerikanische Stadt zu beschreiben. Der Begriff „Idealschema“ wurde bisher jedoch hauptsächlich von Bähr angewandt, was insofern auf Kritik stieß, als er nach Borsdorf (1982: 498) auch „einen Bedeutungsgehalt im Sinne eines anzustrebenden Zustands“ besitze.
Im Folgenden soll deshalb ein ausschließlich deskriptiver Überblick gegeben werden, der die Entwicklung des Idealschemas der lateinamerikanischen Stadt von den Kolonialstädten bis zu den heutigen Metropolen, mit einem besonderen Augenmerk auf Mexiko, darstellt.
Amerika – Die „Neue Welt“? Betrachtet man den Nordamerikanischen Raum besitzt dieser Ausdruck vielleicht auch heute noch Gültigkeit. Mit Blick auf Lateinamerika, stellt man fest, dass die ältesten kolonialen Siedlungen mittlerweile schon fast ein halbes Jahrtausend bestehen.
Während im Europa der frühen Neuzeit die typischen Sternstädte der Renaissance entstehen, beginnen sowohl die Portugiesen im heutigen Brasilien, als auch die Spanier mit der Erschließung des neuen Kontinents. Innerhalb von nur etwa 50 Jahren – im Zeitraum von ca. 1520/30 bis 1570/80 – ist der Großteil kolonialer Städtegründungen vollzogen und damit der Grundstein für das heutige Städtesystem und die Struktur gelegt. Wohlgemerkt enthält der Idealtyp der spanischen Kolonialstadt nicht nur Elemente der spanischen Bauweise; Die an der antiken griechisch-römischen Stadtkultur angelehnte italienische Renaissance weist eine sehr ähnliche geometrische Struktur auf (Heineberg 2000: 260). Zudem lagen die Standorte für neue Siedlungen oft auch in ehemaligen Zentren indigener Völker (Mertins 1992: 178).
1573 wurde der Idealtyp der spanischen Kolonialstädte erstmals gesetzlich fixiert. Die sogenannten ordenanzas Philipps II. stellten gesetzliche Vorschriften zur Stadtstruktur dar, wobei anzumerken ist, dass sie im Grunde die bereits praktizierten Vorgehensweisen zusammenfassten (Mertins 1992: 177).
Das bezeichnendste Strukturelement der hispanoamerikanischen Stadt ist der schachbrettartige Grundriss, bedingt durch die quadratische Aufteilung der Blöcke, die sogenannten cuadras. Nicht zu vergessen die plaza: ein zentraler Hauptplatz, der von Repräsentativbauten gesäumt ist (Mertins 1992: 176; vgl. Abb. 1).
Im Hinblick auf die Sozialstruktur war in der Kolonialzeit ein „Sozialgefälle vom Kern zum Rand“ (Heineberg 2000: 260) festzustellen: Adel und wohlhabendes Bürgertum konzentrierten sich um die plaza; Hüttensiedlungen der Unterschichten (z.B. Indianer und Sklaven) befanden sich am Rand der Siedlung.
Abb. 1: Modell der hispanoamerikanischen Kolonialstadt (Heineberg 2003: 346).
Die Marktfunktion der plaza verlor schon ab dem 16. Jh., stärker dann im 18. Jh. an Bedeutung und wurde auf Nebenplätze abgedrängt. Stattdessen „diente [der Hauptplatz] fortan ausschließlich der Demonstration der öffentlichen Macht, als Exerzierplatz (Plaza de Armas), für religiöse und weltliche Feiern, als öffentlicher Repräsentations- und privater Kommunikationsraum.“ (Mertins 1992: 177)
Die mexikanische Kleinstadt Tepoztlan im Bundesstaat Morelos ist auch heute noch ein gutes Beispiel für die hispanoamerikanische Stadtstruktur. Die Blockstruktur, also die cuadras sind zwar nicht so ausgeprägt, wie in einigen Großstädten. Auffällig ist aber die lineare Straßenstruktur parallel zu plaza und Kirche. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass die plaza in Tepoztlan heutzutage immer noch oder wieder Marktfunktion hat (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Die Stadt Tepoztlan in Morelos, Mexiko (Straßen- und Bebauungsstruktur sind vom Verfasser farblich hervorgehoben und gekennzeichnet worden) (Eigene Bilder 2004).
Folgt man Borsdorfs chronologischem Modell, ist im Zeitraum zwischen 1840 und 1920 eine erste Verstädterungsphase zu beobachten (vgl. Abb. 4). Ein gutes Beispiel für diese Zeit liefert wiederum Mexiko, das 1821 seine Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialmacht erreichte. Mit dem Bergbau hatte man einen Wirtschaftssektor, der schon zu Kolonialzeiten einen erheblichen Teil zum Staatshaushalt beigetragen hatte. Dies brachte auch innerhalb Mexikos einige Städte zu beachtlichem Wohlstand (vgl. Abb. 3) und trieb die Verbreitung der Textilproduktion voran. Der Bedarf an Arbeitskräften, einhergehend mit einer teilweisen Kommerzialisierung der Landwirtschaft in der späten Kolonialzeit, waren mit Sicherheit gute Voraussetzungen für die Verstädterung (Feldbauer 1995). Mexiko-Stadt zum Beispiel, hatte um 1790 bereits um die 105.000 Einwohner; zur Unabhängigkeit zählte man schon ca. 180.000 und um 1900 sogar 344.721 (Gormsen 1994: 79 und 93). In dieser Phase kann auch eine erste Randverlagerung der Wohnviertel der Oberschicht, Bildung von innerstädtischen Elendsvierteln und eine leichte Expansion der Industriezone beobachtet werden (vgl. Abb. 4).
Abb. 3: Die ehemalige Silberbergbau-Stadt Taxco in Guerrero, Mexiko (Eigene Bilder 2004).
Von wirklicher Industrialisierung kann man in Lateinamerika wohl erst ab den 1920er Jahren sprechen. Nach Kohut (1994: 125) „[waren] es die Industrialisierung und die Binnenwanderung, die die Städte zu unförmigen, kaum noch zu übersehenden Gebilden werden ließen.“ Die Folgen, so fährt er fort, seien zum Einen die Abwanderung der Oberschicht aus den Zentren, die im Zuge dessen von armen Bevölkerungsschichten bezogen wurden, und zum Anderen die Slumbildung an der Peripherie. Die Sozialstruktur der Kolonialzeit kehrte sich also in gewissem Maße um, wurde allerdings auch um einiges komplexer (vgl. Abb. 4).
Ein wichtiger Faktor für den Verstädterungsprozess war die Weltwirtschaftskrise von 1929. Sie gab damals Anlass zu einer importsubstitutionierenden Wirtschaftspolitik, mit dem Ziel unabhängiger vom Weltmarkt zu werden, was letztlich ein Wachstum der Industrieviertel brachte (vgl. Abb. 4). Die Anziehungskraft der neu geschaffenen Arbeitsplätze verstärkte das enorme Städtewachstum. Neue und vor allem billige Massenmietshäuser entstanden im Zentrum (Borsdorf 1982: 501); Viertel des sozialen Wohnungsbaus und Hüttenviertel an der Peripherie (Heineberg 2003: 349).
Ein Großteil der Arbeiter wanderte aus dem ländlichen Raum ein (vgl. Abb. 4). Gormsen (1994: 91-93) bezeichnet diesen Urbanisierungsprozess als Folge der Bevölkerungsexplosion,
Abb. 4: Idealschema der lateinamerikanischen Großstadt von Bähr/Mertins (1) und Modell der spanisch-amerikanischen Stadtentwicklung von Borsdorf (2) (Heineberg 2003: 347).
die in Mexiko nach dem Zweiten Weltkrieg – bewirkt durch Gesundheitsprogramme – spürbar wurde: „Als Konsequenz [der Bevölkerungsexplosion] ergab sich eine zunehmende Landflucht, die überwiegend auf die Hauptstadt gerichtet war.“ Faktisch beobachten lässt sich dieser Prozess im Distrito Federal, México, in dem 1940 1,7 Mio. Menschen lebten. Nur zehn Jahre später hatte sich die Zahl mit 3,1 Mio. nahezu verdoppelt (Gilbert 1985: 54). Sehr bescheiden wirkt dies dennoch, wenn man den Vergleich zur heutigen Ausdehnung zieht, bei der so kuriose Begriffe wie „Monstruopolis“ fallen (Gormsen 1994: 111).
Große Städte bedeuten auch in der jüngeren Stadtgeschichte Lateinamerikas große Armut. Nach Angaben Heinebergs (2003: 349) betrug der Bevölkerungsanteil der Hütten- oder auch Marginalsiedlungen „im Jahre 1980 in Bogotá (Kolumbien) 49 %, im Großraum Caracas (Venezuela) 46 %, in der Agglomeration von Mexiko-City sogar 55 % [...].“
Vor allem konsolidierte Hüttenviertel, sowie die Viertel des sozialen Wohnungsbaus, wirken in heutigen Städten als Auffangquartiere für Migranten, die sich im nächsten Schritt aber oft in illegalen oder halblegalen Hüttenvierteln ansiedeln (Bähr 1992: 204). Die Ausbreitung randstädtischer Marginalsiedlungen ist für ein enormes städtisches Flächenwachstum verantwortlich (Heineberg 2003: 310).
Das wohl prägnanteste Merkmal der Sozialstruktur Lateinamerikas ist die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich. Nach Grabendorff (2002: 4) gibt es „keine Region der Welt, die eine ähnliche Einkommensungleichheit aufweist.“
Bähr (1992: 198-204) stellt in den Oberschichtvierteln eine besondere „Dynamik und innere Differenzierung“ fest. So waren einige Viertel Rio de Janeiros erheblichen Schwankungen in der Sozialstruktur unterworfen. Nach kontinuierlichem Anstieg des Sozialstatus, wurde mit Überalterung der Bausubstanz und überhöhter Einwohnerdichte wieder das Niveau der Mittelschicht erreicht. Der dynamische Charakter lateinamerikanischer Städte rührt also nicht nur von der Landflucht her, sondern auch von den in ständigem Wandel begriffenen Vierteln.
Wir haben bisher eine Entwicklung von der noch übersichtlichen, weil hierarchisch strukturierten Kolonialstadt (Sozialgefälle vom Zentrum zur Peripherie), über die immer komplexer werdende Struktur in den Verstädterungsphasen, bis zu den heutigen Metropolen beobachtet. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, mangelnde schulische und medizinische Versorgung, Verkehrschaos und Umweltschäden sind die Hauptprobleme der heutigen Metropolen (zit. nach Hennings in: Heineberg 2000: 267). Welche Veränderungen in Bezug auf das Idealschema hat man angesichts der zahlreichen Probleme, denen die heutigen Megastädte ausgesetzt sind, zu erwarten?
Nach Heineberg (2003: 310) wird die Einwohnerzahl von Mexiko-Stadt von 18,1 Mio. Einwohnern im Jahr 2000 auf 19,2 Mio. im Jahr 2015 ansteigen. Vielleicht bietet diese relativ schwache Wachstumsphase, die ähnlich für Sao Paulo und Buenos Aires prognostiziert wurde, die Gelegenheit besagte Probleme, vor allem aber die soziale Ungleichheit, in den Metropolen Lateinamerikas in den Griff zu bekommen. In Bezug auf das Idealschema könnte dies einen ausgleichenden Effekt hervorrufen, der die derzeit noch mögliche Unterscheidung von Ober-, Mittel- und Unterschichtvierteln aufheben würde.
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