MARI

Monday, January 28, 2008

Entwicklungspolitik und die Theorie der fragmentierenden Entwicklung





von Steffen Hirth


Inhalt


1. Die Verantwortung und Herausforderung des Nordens
2. Die Theorie der fragmentierenden Entwicklung
3. Folgerungen
4. Literatur


Teil 1: Die Verantwortung und Herausforderung des Nordens

In seinem neuesten (und nach eigenen Angaben wohl leider auch letzten) Buch, stellt Prof. Dr. Fred Scholz, Gründer und Leiter des Zentrums für Entwicklungsländer-Forschung (ZELF) an der Freien Universität Berlin, unter Anwendung zahlreicher regionaler Beispiele, die Entwicklungspolitik in ihren Grundlagen dar. Neben den zentralen Anliegen der Armutsbekämpfung und der Grundbedürfnisbefriedigung, sieht Scholz die Aufgaben der Entwicklungspolitik heute zudem in der Sicherung von Nachhaltigkeit, Berücksichtigung globaler Umweltprobleme sowie Konflikt-/Terrorprävention und Friedenssicherung (Scholz 2006: 13).

Die Entwicklungsrealität des Südens stellt für den Norden also nach wie vor eine moralische, politische wie auch ökonomische Herausforderung dar. Auf moralischer Seite muss man die Besitzverhältnisse und die Zentrum-Peripherie-Problematik als koloniale Erblast ansehen. Doch auch die Dekolonisation hat keine Gleichstellung gebracht, zumal die Länder des Südens auch heute noch auf internationale Entwicklungshilfe angewiesen sind und externen ökonomischen Zwängen und Forderungen folgen müssen (z.B. terms of trade). Die politischen Herausforderungen, die mit den Ländern des Südens assoziiert werden, stehen in Verbindung mit Massenmigration, Terrorismus, Kriegen, bad governance und failing states. Die Märkte der Länder des Südens sind für den Norden auf der einen Seite Absatzmärkte, auf der anderen „Lieferanten von Rohstoffen, Nahrungsmitteln, Billigmassenwaren, Arbeitskräften und sogar menschlichen Organen“ (Scholz 2006: 19). Nicht zuletzt stellen die geradezu explosionsartig gewachsenen Städte in den Ländern des Südens, als Schnittpunkte zwischen Zentrum und Peripherie, eine Herausforderung dar (Scholz 2006: 20).

Untrennbar verknüpft mit dem Städtewachstum und Entwicklung im Allgemeinen, ist natürlich auch die globale Herausforderung des Klimawandels, die von Scholz an dieser Stelle allerdings nicht direkt angesprochen wird, mir aber dennoch erwähnenswert erscheint. Aus der Problematik um Entwicklung und Umwelt ergeben sich nämlich zwei bisher ungeklärte ethische Fragen: Wie soll man von den Entwicklungsländern verlangen (langfristig lebensrettende) Umweltstandards einzuhalten, wenn die Regierungen nicht einmal in der Lage sind (mehr oder weniger kurzfristig lebensrettende) Sozialstandards einzuhalten? Wie jedoch sollen die dazu finanziell wie technisch fähigen Länder des Nordens alleine den Klimawandel aufhalten (wenn man beispielsweise den extrem hohen Bevölkerungsdruck in den Ländern des Südens bedenkt)?

An den folgenden von Scholz aufgeführten Fallbeispielen werden die Vielfalt der Probleme in den Entwicklungsländern klar, sowie der Einfluss und die Teilhabe des Nordens daran. In der Entwicklungsrealität des Südens ist – so pessimistisch es auch klingt – nicht viel Raum für eine Beschäftigung mit dem Klimawandel.

Stichwort, Perspektivlosigkeit – Punjab, Indien. An dieser Stelle erlaube ich mir, einen größeren Textabschnitt direkt zu zitieren, da die Unentrinnbarkeit der Armut hier nicht besser hätte aufgezeigt werden können:

„Alle Familienmitglieder, selbst die kleinen Kinder, scharren – ein Werkzeug gibt es nicht – mit den Händen emsig in der Erde, einem Kartoffelfeld. Der Eigentümer des Feldes (…) hat die Ernte an einen Kontraktor verkauft, der das Kartoffellesen überwacht und die Säcke selbst füllt. Er stopft sie nicht nur voll, sondern türmt einen „Berg“ oben auf, den er mit einem Stofffetzen am Sack annäht. Dieses Überfüllen geschieht, um möglichst wenig Säcke zählen zu müssen; denn die Entlohnung der Kartoffelleser geschieht nach der Anzahl der gefüllten Säcke. Die Bezahlung, ein Hohn, besteht in den unreifen und kleinen Kartoffeln, die am Markt nicht abgesetzt werden können. Benötigen die Familien Geld, wenden sie sich meist an den lokal anwesenden Landlord (…). Da sie es ihm nur teilweise zurückzahlen können, bleiben sie ihm bzw. dem Kontraktor als billige Arbeitskräfte lebenslang verpflichtet. Das gilt auch für die Kinder, die diese Abhängigkeit geradezu erben.“ (Scholz 2006: 21)

Als Beispiel für Unregierbarkeit nennt Scholz Somalia, das im Zuge der Dekolonisation willkürlich aus einer britischen und einer italienischen Kolonie zu einem „Nationalstaat“ zusammengefügt wurde. In ähnlicher Weise ist dies auch mit vielen anderen afrikanischen Ländern geschehen und hat zu den zahlreichen religiösen, politischen und ethnischen Konflikten beigetragen, die den gesamten Kontinent plagen. Seit seiner Gründung 1960 leidet Somalia unter Konflikten und Spannungen zwischen verschiedenen clans, die unter Einsatz von Gewalt und Ausschaltung von Rechtsstaatlichkeit, der Bevölkerung unsägliches Leid zufügen. Dabei setzen sie Waffen ein, an deren Verkauf der Norden profitiert (Scholz 2006: 22-26).

In Brasilien stellt die Zerstörung und der Raubbau an der Natur, insbesondere der tropischen Regenwälder, ein Problem dar, das „in engem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Konsum- und Wohlstandsbedürfnissen sowie den Wirtschaftspraktiken des Nordens“ steht (Möbel aus Tropenholz; Anbau von Sojabohnen für den Futtermittelexport z.B. nach Europa, wo es im Rahmen von Massentierhaltung zur Fleischproduktion genutzt wird; Scholz 2006: 26-31).

Die obigen Beispiele zeigen, wie unmittelbar das Schicksal der Länder des Südens auch heute noch an den Norden gebunden ist: durch das Erbe des Kolonialismus und durch die transnationalen Unternehmen in Verbindung mit Waffenhandel und Rohstoffausbeutung. Angesichts dieser Fakten ist es für den Norden undenkbar sich aus der Verantwortung zu stehlen, wenngleich die Mitschuld des Nordens an der Armut des Südens nicht gerne direkt angesprochen wird. Wenn von Schuld oder Mitschuld die Rede ist, darf ein Blick auf die Akteure nicht ausbleiben, doch was verbirgt sich eigentlich hinter dieser schwammigen Verortung des „Südens“ und „Nordens“? Die Theorie der fragmentierenden Entwicklung von Scholz bietet einen etwas differenzierteren Einblick in die Welten von Armut und Reichtum.

Entwicklungspolitik und die Theorie der fragmentierenden Entwicklung





Teil 2: Die Theorie der fragmentierenden Entwicklung

Bis heute basiert das tragende Paradigma in der internationalen Entwicklungspolitik auf der Idee von nachholender Entwicklung – durch technische, finanzielle und personelle Unterstützung des Nordens könne der Rückstand der Länder des Südens aufgeholt werden. Doch die Erfahrung hat gezeigt, dass praktische Maßnahmen der Entwicklungspolitik (inspiriert sowohl durch Modernisierungstheorien, als auch Dependenztheorien) nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben.

Ausgelöst durch die Globalisierung, regen tiefgreifende strukturelle Veränderungen heute dazu an, die theoretischen Zusammenhänge von Neuem zu überdenken. Die Theorie der „fragmentierenden Entwicklung“ stellt einen Ansatz dar, der Entwicklung unabhängig von Nationalstaaten betrachtet und damit Klassifikationen wie die von UN und Weltbank verwendeten Skalen (Less-, Least Devoloped Countries, etc.) zumindest relativiert. Es ist die global operierende Wirtschaft, die dem entgrenzten Nationalstaat die Bedeutung entzieht.


Abb. 1: Das Modell globaler Fragmentierung (Quelle: Scholz 2002: 7).

Transnationale Unternehmen und Finanzinstitutionen haben ihre Kommandozentralen vorwiegend in den „globalen Orten“ des Nordens, wie New York, London oder Tokyo (vgl. Abb. 1). In hierarchischer Ordnung bestimmen sie über das Geschehen in den „globalisierten Orten“ zu denen die stetig wachsenden „Städtemonster“ Lateinamerikas, Afrikas, Süd- und Südostasiens gezählt werden können. Dort befinden sich Hightech-Dienstleistungen, Steuerparadiese und Auslagerungsindustrie (durch die Ablösung der fordistischen Massenproduktion im Norden); dort findet die Billiglohn- und Massenkonsumgüterproduktion, sowie die montane und agrarische Rohstoffextraktion statt.
Diese Orte des globalen Wettbewerbs, die in ständiger Konkurrenz zueinander und daher unter enormem Erfolgsdruck stehen, stellen jedoch nur bestimmte Orte bzw. Zonen und nur Teile der Bevölkerung dar. Sie leben in ständiger Angst vor dem Abstieg in die „Neue Peripherie“ – das, was übrig bleibt, wenn man von der Wirtschaft die globalen und die globalisierten Orte abzieht: Der „überflüssige“ Anteil der Weltbevölkerung wird als Arbeitskraft nicht benötigt, spielt als Konsument keine Rolle und seine Erzeugnisse werden nicht gebraucht (Scholz 2002: 8).


Abb. 2: oben, Bauprojekt "Crescent Bay" in Karachi, Pakistan; unten: Villen im "portugiesischen Stil" in Karachi und Islamabad (Quelle: Iman Investments).

Anstatt die Struktur von Armut und Reichtum im Rahmen von Nationalstaaten zu sehen, geht die Theorie der „fragmentierenden Entwicklung“ dazu über, bestimmte Orte oder Zonen als Fragmente von Armut („Ghettos, Höllen, No-Go-Areas“) und Reichtum („Zitadellen, Paradiese, No-Entrance-Areas“) zu identifizieren.
In der Tat mutet es seltsam an beispielsweise mit Pakistan von einem armen Land zu sprechen, wenn in Städten wie Karachi oder Lahore wahrhaftig paradiesische Villenviertel zu finden sind, die Lebensstandards bieten, von denen auch die Mehrzahl der Menschen des Nordens allenfalls zu träumen wagt (vgl. Abb. 2 ). Oftmals räumlich gar nicht allzu weit entfernt, doch von den „Paradiesen“ mittels festungsartigen Mauern und Wachpersonal abgetrennt, liegen die Slums der „Überflüssigen“. Sozial gesehen liegen dennoch Welten zwischen den verschiedenen Vierteln zum Beispiel Karachis (vgl. Abb. 3; vgl. auch Scholz 2006: 252).


Abb. 3: North Nazimabad, Karachi: Verdeutlicht wird die Separierung zwischen dem Slum zur linken Seite und dem besser gestellten Viertel zur rechten in diesem Fall durch einen Bergkamm (Quelle: Google Earth).


Teil 3: Folgerungen

Die gängigen klassifikatorischen Konzepte (Nord-Süd; Dritte Welt), die sich immer auf ganze Nationalstaaten oder Großregionen bezogen haben, werden durch die beschriebenen Prozesse langsam aber sicher hinfällig. Folgt man der Theorie der „fragmentierenden Entwicklung“ treten an ihre Stelle auf der einen Seite Fragmente der massen- und flächenhaften Armut und auf der anderen eng lokal begrenzte „Inseln des Reichtums“, die gleichzeitig und gleichenorts zu finden sind.

Ausdruck der Fragmentierung sind zum Beispiel Gated Communities, die als Phänomen der sozialen Abgrenzung unter anderem auch als Gegen-/Schutzreaktion auf die Massenmigration angesehen werden kann (vgl. die Beiträge im Blog mit Label „Gated Communities“). Auch Remittances – Rücküberweisungen von Migranten in den Süden, bzw. in die Neue Peripherie – sind in diesem Zusammenhang zu nennen (vgl. Beitrag im Blog: „Der reiche Norden“ – Remittances als Armutsbekämpfungsstrategie in der „Dritten Welt“).

Doch welche Rückschlüsse lassen sich aus dem Konzept einer fragmentierten Welt schließen? Macht die Entwicklungshilfe von Staat zu Staat keinen Sinn mehr? Der Chef des UNDP (United Nations Development Programme) forderte bereits, private Firmen in die Entwicklungsarbeit stärker einzubeziehen, so dass das „internationale System der Entwicklungshilfe nicht mehr das vorrangige Vehikel“ sei.
Für Scholz stellt diese Forderung jedoch eher eine Horror-Vision dar: Durch den exzessiven Wettbewerb, der mit den Unternehmen Einzug in die Entwicklungspolitik halten wird, werden „Armut, Ausgrenzung und Überflüssigsein […] dann als Ausdruck individuellen Versagens gelten, für das die Gesellschaft keine Verantwortung mehr übernehmen muss.“ (Scholz 2006: 259) Zur tatsächlichen Verbesserung der Entwicklungsrealität der ausgegrenzten Peripherie (um nun wirklich nicht mehr von ganzen Ländern zu sprechen), fehlt es dem Norden, bzw. den Globaliserungsfragmenten auf der Gewinnerseite, an einer prinzipiellen Einsicht: „Die Annahme ist irrig, dass Entwicklung ohne Werttransfer, ohne Verzicht auf Eigennutz, ohne Verminderung von Ungleichheit und ohne Solidarität möglich ist. Die Wirklichkeit von fünf Entwicklungsdekaden ist Beweis dafür!“ (Scholz 2006: 258).

...

Zum Buch "Entwicklungsländer – Entwicklungspolitische Grundlagen und regionale Beispiele": Der vorliegende Artikel wird einer ausführlichen Zusammenfassung des Lehrbuches nicht gerecht, er soll somit auch keine Rezension darstellen und schon gar keinen Ersatz dafür, das Buch zu lesen. Aus dem schier unerschöpflichen Thema der Entwicklungspolitik zieht Scholz eine ebenso interessante, wie kurzweilige Mischung und schafft einen guten Überblick. Besonders gefallen hat mir sein nachvollziehbares und merklich von Herzen kommendes (ja, auch dafür muss Platz sein in der Wissenschaft!) Plädoyer für einen materiellen Verzicht des Nordens. Letztlich ist sein Fazit aber doch pessimistisch, da er keine Veränderung der realen Machtverhältnisse (profitierender Norden, profitierende Gruppen/Eliten des Südens) für möglich hält. Das Buch ist uneingeschränkt zu empfehlen!

Kategorie "nebenbei notiert": "Wie wär’s bei der Gelegenheit mit einem anderen Weltwirtschaftssystem? Heute im Super-Mega-Billig-Sonder-Angebot: Der Kommunismus! Ob ich mal schauen bei Wikipedia mag? Ich bin doch nicht blöd!"


4. Literaturangaben

SCHOLZ, FRED (2002): Die Theorie der "fragmentierenden Entwicklung". Geographische Rundschau 54 (2002) Heft 10, S. 6-11.

SCHOLZ, FRED (2006): Entwicklungsländer – Entwicklungspolitische Grundlagen und regionale Beispiele. Braunschweig.

Friday, January 18, 2008









„Der reiche Norden“ – Remittances als Armutsbekämpfungsstrategie in der „Dritten Welt“ (Teil 1)


von Simon Argus


Inhalt


1 Einführung, Fragestellung, Begründung und Struktur der Hausarbeit

2 Definition und Funktionsweise von Remittances

3 Qualitative Effekte durch Remittances
3.1 Die Empfänger und Empfangsdauer von Remittances
3.2 Die Verwendung von Remittances auf der Mikro-Ebene und die Effekte auf die menschliche Entwicklung.
3.3 Auswirkungen auf die Makro-Ebene
3.4 Soziale Probleme durch Remittances
3.5 Verringern Remittances die Armut?

4 Fallbeispiel Indien – Region Kerala

5 Fazit

6 Bibliographie


1 Einführung, Fragestellung, Begründung und Struktur der Hausarbeit

Diese Hausarbeit wird sich mit den Auswirkungen von finanziellen und sonstigen Transfers von Migranten aus deren Gastländern zurück in ihre Herkunftsländer beschäftigen.
Diese Transfers werden im Allgemeinen mit dem englischen Begriff „Remittances“ beschrieben, im Deutschen „Rücküberweisungen“ genannt. Vereinzelt ist auch der Begriff „Rimessen“ in Gebrauch.

Die Fragestellung der Hausarbeit orientiert sich am Thema des Seminars „geographische Armutsforschung“ und lautet: Sind „Remittances“ ein geeignetes Mittel zur Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern?

Die Fragestellung erschließt sich schon allein aus dem sehr großen Ausmaß, das die Zahlung von Remittances gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten angenommen hat. Migranten unterstützen auf dem privaten Weg ihre Familien durch Auslandsüberweisungen über offizielle und inoffizielle Kanäle. Was sind ihre Anreize dazu, wie hoffen die betroffenen Gruppen dadurch ihren Lebensstandard zu erhöhen? Und welche weiterreichenden Folgen haben diese Zahlungen auf den Wohlstand in ihrem Lande?

Meine Hausarbeit wird sich mit den verschiedenen Faktoren beschäftigen, die bestimmen wie Remittances zu Vorteilen aber auch Problemen für die betroffenen Gruppen führen. Dabei spielen direkte und indirekte Faktoren, wie die Akkumulation von Kapital und die Schaffung von Arbeitsplätzen eine Rolle.
Das Ziel der Hausarbeit ist eine dezidierte Beschreibung der verschiedenen Faktoren, die für die Auswirkungen von Remittances auf die Armutsbekämpfung eine Rolle spielen, sodass im Endeffekt eine Aussage darüber getroffen werden kann, ob es sich hierbei um ein wirksames Mittel zur Armutsbekämpfung handelt.

Zunächst werde ich den Begriff „Remittances“ oder „Remissen“ näher beschreiben und definieren. Anschließend werde ich auf die qualitativen Effekte durch Remittances eingehen – also welche Mechanismen durch sie ausgelöst werden. Schließlich werde ich versuchen anhand eines Fallbeispiels diese Mechanismen und Auswirkungen zu belegen.


2 Definition und Funktionsweise von Remittances

Der Begriff „Remittances“, „Rücküberweisungen“ oder „Remissen“ umschließt Geldüberweisungen aus dem Ausland, Güter, die von Migranten in ihre Heimat geschickt werden und Güter sowie Geldmengen, die Migranten bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland mitbringen. (OECD: 2006)

Hierbei ist zu beachten, dass regelmäßige Geldüberweisungen den größeren Teil der Remittances ausmachen, „mitgebrachte“ Remittances spielen aber auch eine gewisse Rolle, speziell in Hinsicht auf die so genannte Pendel-Migration, bei der Migranten nur saisonal ins Ausland reisen, dies aber über mehrere Jahre hinweg immer wieder.

Die Transferierung der Remittances kann auf verschiedene Weisen geschehen, es werden zunächst offizielle von inoffiziellen Kanälen unterschieden: Die offiziellen Kanäle beinhalten Geldinstitute wie „Western Union“ oder „Money-Gram“ aber auch andere ähnliche Einrichtungen. Informelle Transfer-Kanäle sind die Netzwerke des „hawala“-Systems im mittleren Orient oder des „hundi“-Systems in Indien. Diese informellen Kanäle sind in der Regel weniger teuer und eher in der Lage die Zahlungen schnell auch in eher isolierte und ländliche Regionen zu übermitteln (KATSELI 2006: 48).

Es besteht heute keine Möglichkeit diese Zahlungsströme (und auch Güterströme) exakt zu quantifizieren. Lediglich die offiziellen Kanäle, also Überweisungen per Western-Union, Money-Gram oder ähnlichen Instituten werden erfasst. Aber bereits deren Umfang von 240 Milliarden Dollar im Jahr 2007 (im Vergleich: 170 Milliarden in 2002) lässt auf die bedeutende Dimension der Remittances schließen und gewisse Auswirkungen – auch auf die Armutssituation in den betroffenen Ländern – annehmen. (WORLDBANK 2007: 2)

In Abb.1 sehen wir, dass Remittances seit Mitte der 90er Jahre bereits die offizielle Entwicklungshilfe übersteigen:

Thursday, January 17, 2008







„Der reiche Norden“ – Remittances als Armutsbekämpfungsstrategie in der „Dritten Welt“ (Teil 2)

3 Qualitative Effekte durch Remittances


Die finanziellen Transfers der Migranten gehen in der Regel an die im Heimatland zurück gebliebenen Familienmitglieder und den nahen Familienumkreis. Die Transfers sind eine direkte und unkomplizierte Überweisung und haben dadurch eine hohe Effektivität. Sie werden nicht von einer Regierung oder einer internationalen Organisation verteilt – es fallen keine Verwaltungsaufwände oder Verteilungsprobleme an.
Gleichzeitig – wenn man das große Volumen dieser Überweisungen betrachtet – wird klar, dass diese Überweisungen ein Instrument von erheblicher Bedeutung sind, die einen starken Einfluss auf die Entwicklung des betroffenen Landes haben können.
Diese „Transfer-Schocks“ haben auf verschiedene Weisen sofortigen und direkten Einfluss auf die Armut, auf das Wachstum, auf Einkommenssubstituierung und Einkommens-wachstum.

Indirekte Effekte werden durch Veränderungen in der Produktivität hervorgerufen. Denn die ausländischen Devisen unterstützen die Sparquote in den Entwicklungsländern. Dies wiederum kann zu Investitionen im informellen Sektor für kleine Unternehmungen und Projekte verhelfen. Gleichzeitig fließt aber auch ein großer Teil der Überweisungen aus dem Ausland in den Konsum.
Ein weiterer bedeutender Vorteil der „Remittances“ für die Entwicklung eines Landes liegt auch in seiner Stabilität, insbesondere im Vergleich mit den normalen Finanzströmen eines solchen
Landes. Ein antizyklischer Effekt kann entstehen, der einen stabilisierenden Einfluss auf die noch unterentwickelte Wirtschaft eines solchen Landes haben kann.

Im Folgenden werde ich diese vielen verschiedenen Einflüsse im Detail betrachten.

3.1 Die Empfänger und Empfangsdauer von Remittances

Um die möglichen Einflüsse und Konsequenzen der „Remittances“ besser zu verstehen, müssen wir zunächst die Empfänger dieser Transfers kennen. Aber die Effekte werden nicht nur durch die Gruppe der Empfänger (also z.B. Arme oder Reiche Empfänger) sondern auch durch die Dauer der Zahlungen bedingt. Entweder die Transfers werden als eine regelmäßige Zahlung
oder aber als temporäres Zusatzeinkommen wahrgenommen – diese Unterscheidung in der Wahrnehmung führt natürlich auch zu einer Unterscheidung in der Verwendung der zusätzlichen Mittel.

Zur ersten Frage: Welche Familien-Kategorien und welche Länder-Kategorien empfangen den Großteil der Überweisungen?
Ob eher arme Familien von diesen Überweisungen profitieren können liegt vor allem an zwei Punkten: Haben Mitglieder der Familie überhaupt die Möglichkeit zu emigrieren und wie viel überweisen diese Migranten an ihre Familie in der Heimat? Beide Faktoren sind durch die
verschiedenen Bedingungen für Migration in den jeweiligen Ländern bestimmt.

In Ägypten, einem vergleichsweise wohlhabenden Land Afrikas, sind Familien mittleren Einkommens nicht emigriert. Nur Familien mit relativ hohen oder relativ niederen Einkommen gehören zur Gruppe der Migranten und haben in der Folge die Ungleichheiten der familiären Einnahmen verstärkt. (ADAMS 2001: 14)
Während die Gruppen mit hohem und niederem Einkommen von den Auslandsüberweisungen profitiert haben, waren die Mitglieder der Mittelschicht von diesem Prozess weitgehend ausgeschlossen. Der Anstieg der Ungleichheit ist in diesem Falle hauptsächlich das Resultat der Struktur der Migranten und kein Ergebnis der unterschiedlichen Höhe von Transfer-Zahlungen.
(ADAMS 2001: 14)

In anderen Entwicklungsländern ist es wahrscheinlicher, dass die Gruppen mit niedrigeren Einkommen in ihren Heimatländern verbleiben. Sie können die Kosten für eine Migration – also Reisekosten, Kosten für Visa etc. - oft nicht aufbringen oder sie haben keinen Zugang zu den notwendigen Netzwerken.
Der Unterschied zu den unteren Einkommensgruppen in Ägypten besteht darin, dass „niederes Einkommen“ in verschiedenen Ländern unterschiedlich definiert wird – und Ägypten eben relativ weiter entwickelt ist als viele andere betroffenen Länder. Es lässt sich also abschließend sagen, dass es vor allem auf den Kontext des Herkunftslandes ankommt, ob die „unteren
Schichten“ in den Genuss der Zahlungen kommen. (ADAMS 2001: 9)

Dennoch lässt sich in absoluten Begriffen ein gewisses Schema erkennen: Eine Kurve in der Form eines umgedrehten „U“ (siehe Abb.2) beschreibt annähernd den Zusammenhang zwischen Einkommen pro Kopf (auf der X-Achse) und der internationalen Migration eines Landes. Länder mit einem geringen Pro Kopf Einkommen generieren somit weniger Migranten als Länder mit einem mittleren Einkommen. (ADAMS 2003: 18)














Abb.2 Quelle: Eigener Entwurf

Entwicklungsländer, die von einer starken Armut gekennzeichnet sind, produzieren also dennoch weniger Migranten. Wegen der relativ hohen Kosten von Migration kommt die Mehrheit der Migranten aus Ländern, deren Einkommen etwas über der Armutsgrenze liegt. (ADAMS 2003: 18)

Zweite Frage: Wie entwickelt sich die Zahlung von Remittances über die Zeit? Dies wird von
zwei logischen Faktoren bedingt: Zum einen steigen die mittleren Einkommen der Migranten über die Zeit. Sie lernen neue Fähigkeiten und verbessern sich zum Beispiel in der Sprache, was ihnen helfen kann, eine bessere Anstellung im Gastland zu finden. Die Löhne steigen und so kann mehr Geld in die Heimat überwiesen werden.
Der zweite Faktor ist, dass die anhaltende Trennung auch die Verbundenheit zwischen dem Migranten und seiner Familie mindern kann. In einer Studie zeigt David McKenzie, dass die Erwartung Geld zu empfangen (und zu überweisen) mit der Zeit abnimmt.

Es ist außerdem zu Beobachten, dass diejenigen Migranten, die Familienmitglieder in ihren Heimatländern zurücklassen deutlich mehr Geld überweisen, als diejenigen, die gemeinsam mit ihren Familien emigrieren. Das heißt, dass die Intention zur Familie zurückzukehren ein Hauptfaktor ist, warum Migranten Ersparnisse ansammeln und in die Heimat zurück überweisen. Und in diesem Falle sind Remittances ganz klar temporär ausgelegt und werden folglich anders verwendet als reguläre Einkommen. (MCKENZIE 2006)

3.2 Die Verwendung von Remittances auf der Mikro-Ebene und die Effekte auf die menschliche Entwicklung.


Angesichts der Tatsache, dass „Remittances“ private Zahlungen sind, können die Sender und Empfänger dieser Gelder selbst darüber entscheiden, wie sie das Geld verwenden möchten. Es gibt verschiedene Wahlmöglichkeiten – generell wählt man dabei stets auch zwischen Investition oder Konsumation.
Der Kauf von basis-Konsumgütern wurde als einer der Hauptverwendungszwecke von „Remittances“ ausgemacht. Oft ist es schwierig eine Politik durchzusetzen, die eine produktivere Verwendung der Mittel durch die Haushalte erwirkt. (COSS 2006: 8)

Die Entscheidung, die Gelder aus den Überweisungen zu investieren, anstatt sie zu konsumieren, könnte aber durch die Tatsache unterstützt werden, dass „Remittances“ eine eher temporäre Natur besitzen (wie wir im vorhergehenden Kapitel erkannt haben). In der Erwartung zurückgehender Transferzahlungen könnten Haushalte dazu neigen, das Geld zu investieren um aus einem temporären einen langfristigen Gewinn zu machen.

Eine solche Investition könnten Ausgaben für die Bildung der jüngeren Familienmitglieder oder höhere Ausgaben für die Gesundheit der Familie sein. Auf dieser Weise verbessern die „Remittances“ den „HDI“ (Human Development Index), also die allgemeine menschliche
Entwicklung in der betroffenen Gruppe.
Allgemein ist feststellbar, dass Haushalte, die Überweisungen aus dem Ausland erhalten mehr für Gesundheit ausgeben und eine höhere Schulbesuchs-Rate aufweisen. Es gibt Untersuchungen aus Sri Lanka und El Salvador, die diese Zusammenhänge belegen.
Dabei wird festgestellt, dass Kinder aus Familien, die in den Genuss von Auslands-überweisungen kommen, eine geringere Abbrecherrate auf Schulen aufweisen. Auf den Philippinen führte eine Erhöhung der „Remittances“ um 10% zu einer Erhöhung der Alphabeten-Rate um 1,7% und zu einer Verringerung der Kinderarbeit geführt. In Guatemala und Nicaragua haben Kinder aus Familien, die Überweisungen erhalten, eine bessere Gesundheit als Kinder aus anderen Familien mit sozio-demographisch ähnlichem Hintergrund. (COSS 2006: 10)

Nach anderen Untersuchungen ist ein weiteres Resultat eine (zwischen 3% und 4,5%) geringere Kindersterblichkeit und eine um 6,9% geringere Wahrscheinlichkeit von Unterernährung. Dies ist zudem das Ergebnis der Verbesserung des Wissens über Gesundheit in den betroffenen Familien. (MCKENZIE 2006)

Finanzielle Transfers können einer Familie auch erlauben in den Kreditmarkt einzutreten, da sie durch die Zahlungen höhere Garantien an die Kreditgeber machen können. Finanzielle Produkte
wie Sparkonten, Kredite und Versicherungen entstehen verstärkt in Ländern, die „Remittances“ erhalten. Diese Produkte haben eine hohe Bedeutung und sind eine der Hauptbedingungen für eine starke Entwicklung in diesen Ländern. (GLOBAL COMMISSION ON INTERNATIONAL MIGRATION 2006: 26)

Ein weiterer Aspekt ist die mögliche Verwendung der Transferzahlungen als eine Art Versicherung. Das heißt, dass die Familie temporäre Probleme durch geringe Einnahmen mit den Überweisungen aus dem Ausland ausgleichen kann. Beispiele hierfür finden sich in der Landwirtschaft, wo Einnahmen aufgrund von Trockenzeiten etc. oft starken Schwankungen durch das Jahr hindurch ausgesetzt sind oder einzelne Ernten ausfallen. Andere Beispiele sind Phasen von Krankheit oder Todesfälle in der Familie, bei denen ein „Ernährer“ der Familie ausfällt. (NUSCHELER 2006: 304)

Finanzielle Überweisungen können Haushalte aber auch mit einer gewissen Kapital-Decke ausstatten, die es erlaubt in kleine Unternehmungen oder kommerzielle Projekte zu investieren. Diese Investitionen können Trickle Down Effekte auch außerhalb der Familie zur Folge haben.


3.3 Auswirkungen auf die Makro-Ebene
Wir haben am Ende des Kapitels 3.2 bereits gesehen, dass Rücküberweisungen auch außerhalb des direkten Umfeldes der Geldempfänger Auswirkungen haben können. Diese Makro-Ökonomischen Effekte können der Gesellschaft eines ganzen Landes in verschiedener Weise helfen.

Sehr wichtig ist hierbei der Multiplikationseffekt, der durch steigende Ausgaben der direkten Empfänger hervorgerufen wird. Dies schafft zusätzliches Einkommen bei Anbietern von Gütern oder Dienstleistern im Land und kann so eine Art Kettenreaktion in Gang setzen.

Dieser Multiplikationseffekt ist allerdings an mehrere Bedingungen gebunden: Zusätzliche Ausgaben im Inland fördern eine zusätzliche inländische Produktion nur unter der Bedingung, dass genügend ungenutzte Kapazität (etwa Arbeitskraft) vorhanden ist. Wenn die Produktionskapazität limitiert ist, führt eine Erhöhung der Ausgaben im Land eher zu Preissteigerungen und verstärkten Ausgaben für Importe. Dies kann wiederum zu Inflation führen.

Ein weiterer Faktor, der dem genannten Multiplikationseffekt im Wege steht ist die räumliche Disparität in Hinsicht auf den Erhalt von Transferzahlungen. Diese möglicherweise
ungleichmäßige Verteilung kann zu einer Verschärfung der Ungleichheiten führen, da die Ausgaben eben nur in gewissen Regionen steigen können. Ob diese Ausgaben auch in anderen Regionen positive Auswirkungen haben hängt vom Grade der Vernetzung der Wirtschaft im Land ab. (KATSELI 2006: 53f)

Ein weiterer Makro-Ökonomischer Effekt resultiert aus der Verwendung der Remittances als Versicherung auf der Mikro-Ebene. Dies führt in der Gesamtwirtschaft zu antizyklischen Effekten und stabilisiert Einkommen von Haushalten im ganzen Land und während ökonomischer Krisen (etwa durch Dürreperioden). Die Empfänger-Gruppen von Remittances können in diesem Falle auch weiterhin Geld ausgeben, während ansonsten das wirtschaftliche Leben zu einem totalen Stillstand käme.

Des weiteren verstärken Rücküberweisungen die Infrastruktur des finanziellen Sektors in einem Land. Wie bereits in Kapitel 3.2 erwähnt sind die regelmäßigeren Einkommen durch Privatüberweisungen stabiler als der gewöhnliche Finanzfluss und erlaubt einem größeren Teil der Bevölkerung den Zugang zum Finanz- und Kreditmarkt. Eine Vereinfachung der
internationalen Überweisungen könnte zu einer Verstärkung dieses Effekts von Remittances auf die Entwicklung führen. (COSS 2006: 8ff)

Ein letzter Makro-Ökonomischer Effekt ist der Zufluss von ausländischem Kapital. Diese Folge aus den Zahlungen ist besonders wichtig für importabhängige Länder mit einer hohen Verschuldung. Diese Länder leiden an einer ungenügenden inländischen Produktionskapazität. Um ihre Produktion auszuweiten ist es jedoch notwendig die benötigten Maschinen und Technologien aus dem Ausland einzuführen. Der beschränkte Zugang zum internationalen Finanzmarkt und die geringen Devisenreserven verhindern diese Importe jedoch.

Unter diesen Umständen, können Remittances helfen eine kritische Schwelle zu überschreiten und die Produktion auszuweiten. In Abb.3 wird deutlich wie Remittances durch eine Verringerung der Auslandsverschuldung diesen Prozess unterstützen. In Ländern mit geringen Reserven ausländischer Währung sind Rücküberweisungen zur Hauptquelle für ausländische Devisen geworden.















Gleichzeitig gilt es auch einige Risiken zu beachten: Große Zahlungsströme aus dem Ausland können durch die dadurch verursachte Geldexpansion zu Inflation führen. Es ist dabei die Aufgabe nationaler Institutionen diese negativen Effekte einzudämmen. Dennoch gibt es Indizien, dass Remittances in einigen arabischen Ländern in den 1980er Jahren zu einer verstärkten Inflation geführt haben. (KATSELI 2006: 55)

Ein zweites Risiko ist die hervorgerufene Veränderung des Wechselkurses. Durch einen höheren Wechselkurs werden Importe billiger während es schwieriger wird eigene Waren im Ausland abzusetzen. Als Folge wird es schwieriger Güter zu exportieren oder Import-substituierende Industrien zu entwickeln. Eine Folge dieser Entwicklung sind zwangsweise ein Anstieg der Arbeitslosenquote und Schwierigkeiten, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es handelt sich hierbei um die gleiche Problematik wie bei erdölexportierenden Ländern. (GOLDIN 2006)


3.4 Soziale Probleme durch Remittances

Am Ende von Kapitel 3.3 habe ich bereits einige negative Effekte durch Remittances aufgeführt. Im Allgemeinen wurden die damit verbundenen Probleme in früheren Arbeiten über das Phänomen dramatischer gesehen als in neueren Studien. Inzwischen gibt es mehr positive als negative Beispiele für das Potenzial von Remittances.

Die Befürchtung war zunächst, dass ein „Kreislauf der Abhängigkeiten“ entsteht, geschaffen durch die Transferzahlungen aus dem Ausland. In diesem Kreislauf schafft das zusätzliche Kapital einen Anreiz für ein unproduktiveres Verhalten der Empfänger. (McKenzie: 2006)

Aber obwohl die allgemeine Skepsis in diesem Zusammenhang nachgelassen hat, so muss man doch einige bedeutende Risiken beachten.

Es gibt Hinweise die Zeigen, dass Empfänger von Transferzahlungen von diesen abhängig werden und den Anreiz zum erwirtschaften zusätzlichen Einkommens vermindern. Remittances wurden demnach benutzt um geringe Einkommen schlecht bezahlter Arbeit zu ersetzen (substituieren) aber sie haben nicht in jedem Fall dazu geführt, verstärkt neue Einkommensquellen zu erschließen. Diese Tendenzen sind vor allem in Kreisen geringerer Bildungsniveaus zu beobachten und kommen in besser gebildeten Umfeldern seltener vor.

Wenn Familien den Erhalt von Transferzahlungen nicht als vorübergehend ansehen können sie sich davon abhängig machen (vergleiche Kapitel 3.2). Das heißt diese Zahlungen führen zu einer geringeren Motivation zur Weiterentwicklung eigener Fähigkeiten und zu weniger Investitionen für längerfristige zusätzliche Einkommen. Wenn Rücküberweisungen als langfristige Lösung angesehen werden, ziehen die jüngeren Familienmitglieder eine baldige Migration einer abgeschlossenen Schulbildung vor – ein sozialer Abstieg ist mit dieser Entwicklung verbunden.
Viele Jugendliche besuchen daher weder die Schule, noch gehen sie einer geregelten Arbeit nach, sondern sie warten auf die Möglichkeit und das nötige Alter zu migrieren.

Untersuchungen haben ergeben, dass in einigen Gebieten ein Zusammenhang zwischen Migration und einer geringeren Schulbildung besteht. Kinder aus Migrantenfamilien haben eine geringere Schulbesuchsrate als andere Jugendliche. Söhne, deren Eltern mit ihrem niedrigen Bildungsniveau im Ausland Geld verdienen, verlieren die Motivation sich selbst zu bilden. Töchter ersetzen in vielen Fällen diejenigen Mitglieder der Familie, die migrieren und erledigen an deren Stelle Hausarbeiten. Sie haben daher keine Zeit mehr für den Schulbesuch. (MCKENZIE 2006)

Abschließend kann gesagt werden, dass es zu einem Großteil von den Migranten-Familien und deren Verwendung der Geldüberweisungen selbst abhängt ob die Effekte daraus in langer Sicht eher positiv oder negativ sind.


3.5 Verringern Remittances die Armut?

Nach dem Einblick in positive wie negative Effekte durch Remittances auf der Mikro- sowie der Makro-Ebene bleibt die entscheidende Frage: Verringern Remittances die Armut? Es ist schwierig zu sagen, bis zu welchem Punkt Rücküberweisungen in der Entwicklung helfen können. Zunächst müssen verschiedene Aspekte berücksichtigt werden.

Es gilt zu unterscheiden, zwischen den Auswirkungen der Remittances und den allgemeinen Auswirkungen von Migration. Remittances bestehen niemals ohne Migration und diese bedeutet stets den Verlust eines produktiven Mitglieds der Familie im Land im Austausch gegen ein höheres Familieneinkommen.

Des Weiteren gibt es wichtige Unterschiede zwischen Auswirkungen auf der Mikro- und der Makro-Ebene: Auch wenn die Familie des Migranten profitiert, können die Folgen für die Makro-Ebene insgesamt negativ sein. Ein Beispiel hierfür ist die Migration eines Mediziners, der für seine Leute im eigenen Land nicht mehr zur Verfügung steht.
Außerdem kann man nicht einfach die Transfer-Zahlungen, die ein Haushalt erhält von dessen Gesamteinkommen abziehen um das alternative Einkommen ohne Remittances zu bestimmen. Immerhin hätte das migrierende Mitglied der Familie auch im Inland einen gewissen Lohn erzielen können.

Insgesamt muss also folgende Rechnung aufgemacht werden: Der Verlust eines arbeitenden Mitgliedes im Inland kann (oder kann nicht) durch ein geringeres Niveau des familiären Konsums kompensiert werden. Außerdem müssen in die Berechnung Auswirkungen auf Dritte außerhalb der Familie berücksichtigt werden. Erst dann, können die zusätzlichen Mittel für die Familie (und wiederum deren Auswirkungen auf Dritte) in die Rechnung aufgenommen werden. (MCKENZIE 2006)

Unter Berücksichtigung all dieser Faktoren kommen empirische Erhebungen aus verschiedenen Teilen der Welt zu dem Ergebnis, dass Remittances tatsächlich zu einer Verringerung der Armut beitragen. Aufgrund der Tatsache, dass Rücküberweisungen ein zusätzliches Einkommen darstellen können sie die Armut tatsächlich nur verschlimmern, wenn sie eine starke Steigerung von Ungleichheiten auslösen.

Diese empirischen Befunde für eine Verringerung der Armut sollen im folgenden Kapitel anhand eines Fallbeispiels erörtert werden.





Wednesday, January 16, 2008







„Der reiche Norden“ – Remittances als Armutsbekämpfungsstrategie in der „Dritten Welt“ (Teil 3)


5 Fallbeispiel: Folgt demnächst


6 Bibliographie:

ADAMS, R. UND J. PAGE (2001): Holding the Line: Poverty Reduction in the Middle East and North Africa, 1970-2000. Internet: http://www.mafhoum.com/press3/96E14.pdf (8.1.2008)

ADAMS, R. UND J. PAGE (2003): International Migration, Remittances and Poverty in Developing Countries. Internet: http://www-wds.worldbank.org/servlet/WDSContentServer/WDSP/IB/2004/01/21/000160016_20040121175547/Rendered/PDF/wps3179.pdf (8.1.2008)

COSS, R.H. (2006): The Impact of Remittances: Observations in Remitting and Receiving Countries. Internet: http://www.g24.org/rhco0906.pdf (8.1.2008)

GLOBAL COMMISSION ON INTERNATIONAL MIGRATION (2006): Migration in an interconnected world: New directions for action. Internet: http://www.gcim.org/attachements/gcim-complete-report-2005.pdf (8.1.2008)

GOLDIN, I. (2006): Globalizing with their feet: The Opportunities and Costs of International Migration. Internet: http://siteresources.worldbank.org/EXTABOUTUS/Resources/Migration.pdf
(1.8.2008)

KATSELI L.T., R.E.B. LUCAS UND T. XENOGIANI (2006): Effects of Migration on Sending Countries: What do we know? Internet: http://www.un.org/esa/population/migration/turin/Symposium_Turin_files/P11_Katseli.pdf (8.1.2008)

MCKENZIE, D. (2006): Economic Implication of Rem
ittances and Migration. Internet: http://econ.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/EXTDEC/0,,menuPK:476823~pagePK:64165236~piPK:64165141~theSitePK:469372,00.html (10.12.2007)

MIGRATION POLICY INSTITUTE (2007): Policy Brief: Leveraging Remittances for Development. Internet: http://www.migrationpolicy.org/pubs/MigDevPB_062507.pdf (8.1.2008)

NUSCHELER, F. (2005): Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik

SARR, O. (2006): International Migration Statistics in the ECA Region. Internet: http://unstats.un.org/unsd/demographic/meetings/egm/migrationegm06/DOC%2023%20ECA.
Pdf
(10.12.2007)

THE WORLD BANK (2007): Migration and Development Brief 3. Internet: http://siteresources.worldbank.org/EXTDECPROSPECTS/Resources/476882-1157133580628/BriefingNote3.pdf (8.1.2008)

THE WORLD BANK (2007): Migration and Remittances Factbook. Internet:
http://siteresources.worldbank.org/INTPROSPECTS/Resources/334934-1199807908806/India.pdf (8.1.2008)

VENRO (2007): Rücküberweisungen von ArbeitsmigrantInnen als Ausweg aus der Armut? Eine Studie am Fallbeispiel des indischen Bundesstaates Kerala. Internet: http://www.venro.org/publikationen/archiv/2015_Campus_Nr01_Rueckueberweisungen.pdf (8.1.2008)

VENIER, P. (2005): L’Émigration des Kéralais dans le Golfe – L’impact des mouvements migratoires internationaux sur une societé en développement. In: Jaber, H. und F. Métral (Hrsg., 2005). Mondes et Mouvements. Migrants et Migrations au Moyen-Orient au tournant du XXIe siècle. Paris. 293-319.

Friday, January 11, 2008









"Die Welt ist keine Scheibe, sie ist auch nicht rund (sie ist auch keine Kartoffel und kein Geoid), sie ist ein Bündel verwurschtelter Kabel, das entwurschtelt werden will."

Ertpol


Kommentar:

Dürfte Philip auf diesem Blog Kommentare hinterlassen (er hat keinen Account), hätte er das geschrieben: "...Kabelsalat also. Und sobald das Ding entwurstelt ist, ist unsere Welt dann ein paar km lang und nur wenige cm dick? Dann wäre die Entfernung vom Nord- zum Südpol sehr groß und jedes Land könnte von sich behaupten, so vielfältig zu sein wie Chile schon heute. Nur Chile nicht, da würde man nur noch einen Fuß reinbekommen, so schmal wäre das arme Land.
Steffen, ich weiß nicht ob die Welt entwurschtelt werden will."

Antwort:

Lieber Philip,

du weißt, dass ich kein physischer Geograph bin, auch wenn ich mit großer Wahrscheinlichkeit physisch existiere. Der Kabelsalat bezieht sich natürlich vielmehr auf soziale Beziehungen und Netzwerke, die nach aller Erfahrung sehr verwurschtelt sein können und das nicht immer zum Positiven. Es ist mir egal, ob die Welt entwurschtelt werden will. Ich will es! (Hahahahahaaaaaar!)



Thursday, January 10, 2008

Google-Gott 3: Gated Communities

Ein aktuelles Buch über Gated Communities, reich bebildert und ansprechend geschrieben, das uneingeschränkt Jedem (sofern dem Französischen mächtig) zu empfehlen ist, handelt von den freiwilligen Gefangenen des Amerikanischen Traums:

Degoutin S. (2006), Prisonniers volontaires du rêve américain, Éditions de la Villette, Paris, 400 Seiten.

Neben unzähligen anderen Fallbeispielen, geht Stéphane Degoutin auf folgende in Los Angeles gelegene Gated Communities ein, die hier mit freundlicher Unterstützung von Google Earth einmal kurz vorgestellt werden sollen, um einige Beispiele von städtischen, geschlossenen Siedlungen zu geben:

"Manhattan Village", Los Angeles:



Bestimmt für wohlhabende Kunden, besticht die Gated Community "Manhattan Village" vor allem durch ihre Nähe zum internationalen Flughafen. Die ca. 1500 Bewohner zählende Siedlung, bietet sich so besonders für Vielreisende an, wie zum Beispiel Basket-Ball-Stars. Viele von ihnen halten sich häufiger in Downtown Manhattan, in 4000km Entfernung auf, als in Downtown Los Angeles, das nur 20km entfernte, aber degradierte Stadtzentrum. Quellen: oberes Bild: Google Earth; unteres Bild: nogoland.com; Text: Degoutin (2006): S. 37.

Luxus-Condominium "Marina del Rey", Los Angeles:


Eine Gated Community in eher vertikaler Ausbreitung stellt das Condominium dar. Die riesigen Wohntürme wurden in dem Maße rentabler, je mehr der bebaubare Raum abnahm. "Marina del Rey" bietet neben dem Jachthafen - wie auch "Manhattan Village" - die Nähe zum internationalen Flughafen. Auch sonst ist alles, was das Luxus-Herz begehrt, geboten: privater Park, Portal mit uniformierten Wächtern und ein beeindruckendes Repertoire an sportlichen Aktivitäten - dies alles mit "24/7/365" (Service: 24h am Tag, 7 Tage die Woche und 365 Tage im Jahr). Quellen: Bild: Google Earth; Text: Degoutin (2006): S. 85.

Residenz "Medici", Downtown Los Angeles:


Die Residenz "Medici" legt alles daran, ihren Bewohnern jegliche Berührung mit dem öffentlichen Raum zu ersparen, liegt sie doch in einem potentiell gefährlichen Viertel. Allein die Bauweise erinnert stark an eine Festung. Die Ausfahrt aus der Garage mündet fast direkt in den Highway (im Luftbild unten rechts). Die zwei Häuserblöcke sind durch Skyways verbunden, die eine sichere Passage zwischen beiden ermöglichen. Ein weiterer Steg führt zu Tennisplätzen (im Luftbild unten links), die, wie auch die gesamte Wohnanlage, an eine Oase in einer Wüste aus Häusern und Straßen erinnern (sollen). Quellen: oberes Bild: Google Earth; untere Bilder: apartments.com; Text: Degoutin (2006): S. 36.

Die hier aufgeführten Gated Communities können als einige der räumlichen Manifestationen der fragmentierten Stadt gesehen werden. Diskrepanzen, Unsicherheit, Segregation nach "Rasse" oder sozialem Status, Hegemonie des Marketings und Privatisierung des öffentlichen Raumes, sind nur einige diesbezügliche Themen, an denen Degoutin (nochmals die Kaufempfehlung!) das Aufblühen der Gated Communities in den USA darstellt. In der unsicheren Umgebung der Megalopolen, der globalen und globalisierten Städte, suchen Menschen in kleinen, homogenen Gemeinschaften ihr Heil und werden so, wohlbehütet hinter Mauern und Zäunen, zu freiwilligen Gefangenen des Amerikanischen Traums ("Prisonniers volontaires du rêve américain").

Idealschema der lateinamerikanischen Stadt


von Steffen Hirth



1. Zielsetzung der Hausarbeit


Lateinamerika, also alle Staaten Amerikas südlich der USA, ist zwar auf die Gesamtfläche gesehen kein dicht besiedeltes Gebiet. Es weist aber einen hohen Grad an Verstädterung auf; 1990 lag dieser bei 72% (Waldmann 2000: 24). Mexiko-Stadt, Sao Paulo und Buenos Aires gehörten im Jahr 2000 zu den zehn größten Städten der Erde (Heineberg 2003: 310). Was liegt angesichts dessen näher, als die lateinamerikanische Stadt einmal näher in Augenschein zu nehmen?

In der wissenschaftlichen Diskussion hat es schon viele Versuche gegeben, die lateinamerikanische Stadt zu beschreiben. Der Begriff „Idealschema“ wurde bisher jedoch hauptsächlich von Bähr angewandt, was insofern auf Kritik stieß, als er nach Borsdorf (1982: 498) auch „einen Bedeutungsgehalt im Sinne eines anzustrebenden Zustands“ besitze.

Im Folgenden soll deshalb ein ausschließlich deskriptiver Überblick gegeben werden, der die Entwicklung des Idealschemas der lateinamerikanischen Stadt von den Kolonialstädten bis zu den heutigen Metropolen, mit einem besonderen Augenmerk auf Mexiko, darstellt.

2. Besiedlung der „Neuen Welt“: Die Kolonialzeit

2.1 Geschichte und Vorbilder der Besiedlungsweise

Amerika – Die „Neue Welt“? Betrachtet man den Nordamerikanischen Raum besitzt dieser Ausdruck vielleicht auch heute noch Gültigkeit. Mit Blick auf Lateinamerika, stellt man fest, dass die ältesten kolonialen Siedlungen mittlerweile schon fast ein halbes Jahrtausend bestehen.

Während im Europa der frühen Neuzeit die typischen Sternstädte der Renaissance entstehen, beginnen sowohl die Portugiesen im heutigen Brasilien, als auch die Spanier mit der Erschließung des neuen Kontinents. Innerhalb von nur etwa 50 Jahren – im Zeitraum von ca. 1520/30 bis 1570/80 – ist der Großteil kolonialer Städtegründungen vollzogen und damit der Grundstein für das heutige Städtesystem und die Struktur gelegt. Wohlgemerkt enthält der Idealtyp der spanischen Kolonialstadt nicht nur Elemente der spanischen Bauweise; Die an der antiken griechisch-römischen Stadtkultur angelehnte italienische Renaissance weist eine sehr ähnliche geometrische Struktur auf (Heineberg 2000: 260). Zudem lagen die Standorte für neue Siedlungen oft auch in ehemaligen Zentren indigener Völker (Mertins 1992: 178).

2.2 Struktur der spanischen Kolonialstadt

1573 wurde der Idealtyp der spanischen Kolonialstädte erstmals gesetzlich fixiert. Die sogenannten ordenanzas Philipps II. stellten gesetzliche Vorschriften zur Stadtstruktur dar, wobei anzumerken ist, dass sie im Grunde die bereits praktizierten Vorgehensweisen zusammenfassten (Mertins 1992: 177).

Das bezeichnendste Strukturelement der hispanoamerikanischen Stadt ist der schachbrettartige Grundriss, bedingt durch die quadratische Aufteilung der Blöcke, die sogenannten cuadras. Nicht zu vergessen die plaza: ein zentraler Hauptplatz, der von Repräsentativbauten gesäumt ist (Mertins 1992: 176; vgl. Abb. 1).

Im Hinblick auf die Sozialstruktur war in der Kolonialzeit ein „Sozialgefälle vom Kern zum Rand“ (Heineberg 2000: 260) festzustellen: Adel und wohlhabendes Bürgertum konzentrierten sich um die plaza; Hüttensiedlungen der Unterschichten (z.B. Indianer und Sklaven) befanden sich am Rand der Siedlung.

Abb. 1: Modell der hispanoamerikanischen Kolonialstadt (Heineberg 2003: 346).


Die Marktfunktion der plaza verlor schon ab dem 16. Jh., stärker dann im 18. Jh. an Bedeutung und wurde auf Nebenplätze abgedrängt. Stattdessen „diente [der Hauptplatz] fortan ausschließlich der Demonstration der öffentlichen Macht, als Exerzierplatz (Plaza de Armas), für religiöse und weltliche Feiern, als öffentlicher Repräsentations- und privater Kommunikationsraum.“ (Mertins 1992: 177)

Die mexikanische Kleinstadt Tepoztlan im Bundesstaat Morelos ist auch heute noch ein gutes Beispiel für die hispanoamerikanische Stadtstruktur. Die Blockstruktur, also die cuadras sind zwar nicht so ausgeprägt, wie in einigen Großstädten. Auffällig ist aber die lineare Straßenstruktur parallel zu plaza und Kirche. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass die plaza in Tepoztlan heutzutage immer noch oder wieder Marktfunktion hat (vgl. Abb. 2).

Abb. 2: Die Stadt Tepoztlan in Morelos, Mexiko (Straßen- und Bebauungsstruktur sind vom Verfasser farblich hervorgehoben und gekennzeichnet worden) (Eigene Bilder 2004).


3. Erste Verstädterungsphase


Folgt man Borsdorfs chronologischem Modell, ist im Zeitraum zwischen 1840 und 1920 eine erste Verstädterungsphase zu beobachten (vgl. Abb. 4). Ein gutes Beispiel für diese Zeit liefert wiederum Mexiko, das 1821 seine Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialmacht erreichte. Mit dem Bergbau hatte man einen Wirtschaftssektor, der schon zu Kolonialzeiten einen erheblichen Teil zum Staatshaushalt beigetragen hatte. Dies brachte auch innerhalb Mexikos einige Städte zu beachtlichem Wohlstand (vgl. Abb. 3) und trieb die Verbreitung der Textilproduktion voran. Der Bedarf an Arbeitskräften, einhergehend mit einer teilweisen Kommerzialisierung der Landwirtschaft in der späten Kolonialzeit, waren mit Sicherheit gute Voraussetzungen für die Verstädterung (Feldbauer 1995). Mexiko-Stadt zum Beispiel, hatte um 1790 bereits um die 105.000 Einwohner; zur Unabhängigkeit zählte man schon ca. 180.000 und um 1900 sogar 344.721 (Gormsen 1994: 79 und 93). In dieser Phase kann auch eine erste Randverlagerung der Wohnviertel der Oberschicht, Bildung von innerstädtischen Elendsvierteln und eine leichte Expansion der Industriezone beobachtet werden (vgl. Abb. 4).

Abb. 3: Die ehemalige Silberbergbau-Stadt Taxco in Guerrero, Mexiko (Eigene Bilder 2004).


4. Zweite Verstädterungsphase


Von wirklicher Industrialisierung kann man in Lateinamerika wohl erst ab den 1920er Jahren sprechen. Nach Kohut (1994: 125) „[waren] es die Industrialisierung und die Binnenwanderung, die die Städte zu unförmigen, kaum noch zu übersehenden Gebilden werden ließen.“ Die Folgen, so fährt er fort, seien zum Einen die Abwanderung der Oberschicht aus den Zentren, die im Zuge dessen von armen Bevölkerungsschichten bezogen wurden, und zum Anderen die Slumbildung an der Peripherie. Die Sozialstruktur der Kolonialzeit kehrte sich also in gewissem Maße um, wurde allerdings auch um einiges komplexer (vgl. Abb. 4).

Ein wichtiger Faktor für den Verstädterungsprozess war die Weltwirtschaftskrise von 1929. Sie gab damals Anlass zu einer importsubstitutionierenden Wirtschaftspolitik, mit dem Ziel unabhängiger vom Weltmarkt zu werden, was letztlich ein Wachstum der Industrieviertel brachte (vgl. Abb. 4). Die Anziehungskraft der neu geschaffenen Arbeitsplätze verstärkte das enorme Städtewachstum. Neue und vor allem billige Massenmietshäuser entstanden im Zentrum (Borsdorf 1982: 501); Viertel des sozialen Wohnungsbaus und Hüttenviertel an der Peripherie (Heineberg 2003: 349).

Ein Großteil der Arbeiter wanderte aus dem ländlichen Raum ein (vgl. Abb. 4). Gormsen (1994: 91-93) bezeichnet diesen Urbanisierungsprozess als Folge der Bevölkerungsexplosion,

Abb. 4: Idealschema der lateinamerikanischen Großstadt von Bähr/Mertins (1) und Modell der spanisch-amerikanischen Stadtentwicklung von Borsdorf (2) (Heineberg 2003: 347).


die in Mexiko nach dem Zweiten Weltkrieg – bewirkt durch Gesundheitsprogramme – spürbar wurde: „Als Konsequenz [der Bevölkerungsexplosion] ergab sich eine zunehmende Landflucht, die überwiegend auf die Hauptstadt gerichtet war.“ Faktisch beobachten lässt sich dieser Prozess im Distrito Federal, México, in dem 1940 1,7 Mio. Menschen lebten. Nur zehn Jahre später hatte sich die Zahl mit 3,1 Mio. nahezu verdoppelt (Gilbert 1985: 54). Sehr bescheiden wirkt dies dennoch, wenn man den Vergleich zur heutigen Ausdehnung zieht, bei der so kuriose Begriffe wie „Monstruopolis“ fallen (Gormsen 1994: 111).

5. Die jüngste Entwicklung lateinamerikanischer Städte

Große Städte bedeuten auch in der jüngeren Stadtgeschichte Lateinamerikas große Armut. Nach Angaben Heinebergs (2003: 349) betrug der Bevölkerungsanteil der Hütten- oder auch Marginalsiedlungen „im Jahre 1980 in Bogotá (Kolumbien) 49 %, im Großraum Caracas (Venezuela) 46 %, in der Agglomeration von Mexiko-City sogar 55 % [...].“

Vor allem konsolidierte Hüttenviertel, sowie die Viertel des sozialen Wohnungsbaus, wirken in heutigen Städten als Auffangquartiere für Migranten, die sich im nächsten Schritt aber oft in illegalen oder halblegalen Hüttenvierteln ansiedeln (Bähr 1992: 204). Die Ausbreitung randstädtischer Marginalsiedlungen ist für ein enormes städtisches Flächenwachstum verantwortlich (Heineberg 2003: 310).

Das wohl prägnanteste Merkmal der Sozialstruktur Lateinamerikas ist die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich. Nach Grabendorff (2002: 4) gibt es „keine Region der Welt, die eine ähnliche Einkommensungleichheit aufweist.“

Bähr (1992: 198-204) stellt in den Oberschichtvierteln eine besondere „Dynamik und innere Differenzierung“ fest. So waren einige Viertel Rio de Janeiros erheblichen Schwankungen in der Sozialstruktur unterworfen. Nach kontinuierlichem Anstieg des Sozialstatus, wurde mit Überalterung der Bausubstanz und überhöhter Einwohnerdichte wieder das Niveau der Mittelschicht erreicht. Der dynamische Charakter lateinamerikanischer Städte rührt also nicht nur von der Landflucht her, sondern auch von den in ständigem Wandel begriffenen Vierteln.

6. Zukunftsausblick

Wir haben bisher eine Entwicklung von der noch übersichtlichen, weil hierarchisch strukturierten Kolonialstadt (Sozialgefälle vom Zentrum zur Peripherie), über die immer komplexer werdende Struktur in den Verstädterungsphasen, bis zu den heutigen Metropolen beobachtet. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, mangelnde schulische und medizinische Versorgung, Verkehrschaos und Umweltschäden sind die Hauptprobleme der heutigen Metropolen (zit. nach Hennings in: Heineberg 2000: 267). Welche Veränderungen in Bezug auf das Idealschema hat man angesichts der zahlreichen Probleme, denen die heutigen Megastädte ausgesetzt sind, zu erwarten?

Nach Heineberg (2003: 310) wird die Einwohnerzahl von Mexiko-Stadt von 18,1 Mio. Einwohnern im Jahr 2000 auf 19,2 Mio. im Jahr 2015 ansteigen. Vielleicht bietet diese relativ schwache Wachstumsphase, die ähnlich für Sao Paulo und Buenos Aires prognostiziert wurde, die Gelegenheit besagte Probleme, vor allem aber die soziale Ungleichheit, in den Metropolen Lateinamerikas in den Griff zu bekommen. In Bezug auf das Idealschema könnte dies einen ausgleichenden Effekt hervorrufen, der die derzeit noch mögliche Unterscheidung von Ober-, Mittel- und Unterschichtvierteln aufheben würde.


Literaturverzeichnis:

Bähr, J. (1992): Grundstrukturen der modernen Großstadt in Lateinamerika. In: Reinhard, W. & P. Waldmann (Hrsg.): Nord und Süd in Amerika. Gemeinsamkeiten, Gegensätze, Europäischer Hintergrund. Freiburg: 194-211.

Borsdorf, A. (1982): Die lateinamerikanische Großstadt. Zwischenbericht zur Diskussion um ein Modell. Geographische Rundschau 34 (11): 498-501.

Feldbauer, P. (1995): Mexiko und die historischen Wurzeln abhängiger Industrialisierung. Internet: http://www.univie.ac.at/Wirtschaftsgeschichte/VGS/HSK6lp.html (09.12.2004).

Gilbert, A. und P. M. Ward (1985): Housing, the state and the poor: policy and practice in three Latin American cities. Cambridge.

Gormsen, E. (1994): Die Stadt México – Megalopolis ohne Grenzen?. In: Gormsen, E. & A. Thimm. (Hrsg.): Megastädte in der Dritten Welt. Mainz: 73-116.

Grabendorff, W. (2002): Lateinamerika - Noch immer der Kontinent der Zukunft?. Internet: http://db.swr.de/upload/manuskriptdienst/aula/au042002993.rtf (08.12.2004).

Heineberg, H. (2000): Grundriß Allgemeine Geographie: Stadtgeographie. Paderborn. 11.3 Die lateinamerikanische Stadt: 259-268.

Heineberg, H. (2003): Einführung in die Anthropogeographie/Humangeographie. Paderborn. 6.5.2 Neue Modelle der Stadtstruktur und –entwicklung in ausgewählten Kulturerdteilen. 339-356.

Kohut, K. (1994): Darstellung und Kritik der lateinamerikanischen Metropolen in der Literatur. In: Gormsen, E. & A. Thimm. (Hrsg.): Megastädte in der Dritten Welt. Mainz: 117-134.

Mertins, G. (1992): Entstehungsparameter und Strukturmuster der hispanoamerikanischen Stadt. In: Reinhard, W. & P. Waldmann (Hrsg.): Nord und Süd in Amerika. Gemeinsamkeiten, Gegensätze, Europäischer Hintergrund. Freiburg: 176-193.

Waldmann, P., D. Nolte (2000): Bevölkerungsentwicklung und Verstädterung. Informationen zur politischen Bildung 226 (1): 23-30.


Weiterführende Literatur:

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Bähr, J. und G. Mertins (1992): Verstädterung in Lateinamerika. In: Geographische Rundschau 44: 360-370.

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